
Muss ich abnehmen?
Eine Frage, die man sich oft gar nicht stellen muss, sondern die man von der Gesellschaft beantwortet bekommt, ohne überhaupt gefragt zu haben. Wenn ich mich selbst frage, dann komme ich selbst zur Antwort: Ja!
Wenn du mich das fragen würdest, dann kann ich dir das nicht beantworten.
Es ist und bleibt eine persönliche Entscheidung.
Warum muss ich abnehmen?
Es gibt mit Sicherheit zahlreiche medizinische Gründe, die es aus Sicht meines Arztes rechtfertigen würden, abzunehmen. Entwicklung in Richtung Diabetes Typ 2, Fettleber, erhöhte Gefahr für Schlaganfall und Herzinfarkt,…
Würde ich meinen Hausarzt danach fragen, könnte er mir wahrscheinlich einen halben Tag lang Vorträge darüber halten. Gott sei Dank habe ich einen recht empathischen Hausarzt, der mich nicht auf einen „Übergewichtigen“ reduziert.
Entschließt man sich dann, gegen die eigene Morbidität anzukämpfen und sein Leben quasi auf den Kopf zu stellen, folgt folgender klassischer 7-Punkte-Plan:
- Auswahl eines geeigneten Diät-Programms mit der Fokussierung auf Kalorien und – je nach Diät-Philosophie – die Vermeidung bestimmter Makronährstoffe
- Entwicklung und Verschriftlichung eines ausgedehnten Sportprogramms, bei dem selbst Olympia-Leichtathleten und Bodybuilder mit den anabolen Ohren schlackern.
- Fortschreitende Kasteiung und Verzicht auf bestimmte Lebensmittel. Man ist ja schließlich im Krieg gegen Zucker und Fett.
- Erste Erfolge nach 1-2 Wochen: Man verliert fünf Kilo
- Man wird zum Übermensch und versteht nicht, warum so viele es nicht schaffen, abzunehmen.
- Das Imperium schlägt zurück: Unkontrollierte Essanfälle, Einstellung des Sportprogramms und Verzicht auf den Verzicht (Man braucht nur kurz eine Pause).
- Man hat erfolgreich zehn Kilo zugenommen.
Diet – Gain – Repeat.
Was ist schief gegangen?
Meiner persönlichen Meinung nach war die Motivationsquelle nicht die richtige. Ähnlich wie beim Rauchen, beim übertriebenen Alkoholkonsum oder bei der regelmäßigen Anwendung von anderen Substanzen ist man sich selbst ohnehin durchaus bewusst, dass man seinem Körper schadet. Rein vom medizinischen Standpunkt her.
Im Gegensatz zu Rauchern oder Alkoholikern findet die Bewertung von mehrgewichtigen Menschen durch die Gesellschaft unmittelbar statt, weil man eben das Mehrgewicht relativ einfach optisch wahrnimmt. Das kommt daher, dass man dank Werbung, Internet und soziale Medien eingetrichtert bekommt, was ein Normalgewicht ist und was ein Übergewicht ist.
Seine eigene moralische Vorstellung als die einzig richtige im Universum zu halten ist leider in der berühmten Mitte der Gesellschaft stark verbreitet. Solidarität mit anderen, Verständnis und Akzeptanz nehmen dafür immer mehr ab. Ein blöder Spruch im Zug oder auf der Straße lösen recht leicht den oben beschriebenen 7-Punkteplan aus. Und dabei braucht es eigentlich gar kein Verständnis oder keine Akzeptanz. Es braucht nur die ganz simple Grundeinstellung: Jeder Mensch ist gleich.
Bewerten wir die Eingangsfrage also neu. Muss ich abnehmen? Die Antwort lautet: Nein!
Motivation
Zusammengefasst: Extrinsische Motivation ist nie ein Grund, sich selbst zu verändern. Mir fällt zumindest keine ein.
Es gibt aber durchaus einen anderen Grund. Der ehrliche und uneingeschränkte, eigene Antrieb.
Ich fühle mich absolut nicht mehr wohl. Ich habe zwar gelernt, meinen Körper zu lieben, vor allem dafür, was er eigentlich tagtäglich leistet. Ich möchte ihm aber sein Leben erleichtern und ich möchte, dass er noch länger “leistungsfähig” ist. Es geht mir in Summe gesehen mit dem aktuellen Zustand nicht gut.
Leistung ist speziell bei diesem Thema ein schwieriger Begriff. Ist man doch auch seitens Politik “nur” als Leistungsträger, als fleißiger und flexibler Mensch anerkannt.
Früher hatte ich folgende Abnehm-Ziele:
- Zielgewicht 85 Kilo mit super Muskel-Anteil und wenig KFA
- Athletischer Körper und Lebensstil gemäß Instagram Vorbild @fitness_hubert999
- Anerkennung durch die Gesellschaft
What the fuck? “Anerkennung durch die Gesellschaft.”
Anerkennung, damit man so ist wie andere einen haben wollen? Echt? Sowas gibts?
Man hat abgenommen. Man hat ganz Ordentliches geleistet. Bravo, das verdient Anerkennung. Du bist jetzt ein anerkanntes Mitglied unserer Gesellschaft.
So ein Scheiß!
…
Ich-Sein und Ich-Bleiben ist bei mir jetzt das neue Abnehmen. Und zwar nur wegen mir.
- Ich will meinen Körper und meinen Geist so gesund wie möglich halten.
- Ich will wieder auf Bergen herumklettern können, unternehmungslustig sein, wandern, reisen, fliegen, segeln,… und dabei eben nicht ständig an die Grenzen des eigenen Körpers stoßen. Dazu will ich abnehmen. Ich will aber nicht abnehmen, weil mich der Seilbahnmitarbeiter komisch ansieht, wenn ich in eine Gondel steige.
- Ich will meinen – aufgrund der mehrfachen Durchlebung des 7-Punkte-Plans – komplett gestörten Zugang zu Essen, Körpergefühl und Lebensqualität endgültig ablegen und das auch ein Leben lang so beibehalten.
- Ich möchte gerne glücklich sein. Das kann man übrigens jederzeit einfach so sein.
Über all dem steht aber auch eines: Ich will vor allem ich sein. Ich brauche dazu keine Anerkennung und keine Mitgliedschaft im Club der Menschen mit besonders hoher Leistungsfähigkeit.
Dazu passend ein aktuelles Buch von Elisabeth Lechner
“Riot, don’t diet!” ISBN 978-3-218-01254-6
Dicke, haarige, queere, alternde Körper, People of Colour, Menschen mit Behinderung: Wer in unserer Gesellschaft nicht der Norm entspricht, wer sich und seinen Körper nicht dem kommerzialisierten Zwang zur Selbstoptimierung unterwirft, wird marginalisiert, gemobbt und ausgegrenzt. Doch wer definiert Schönheit und wem nützt das? Klar ist jedenfalls: Schönheit ist nicht nur ein Geschäft, sie ist vor allem eines: politisch. Wenn eine Frau wegen unrasierten Beinen Morddrohungen bekommt, wenn Jobbewerbungen nach dem Körpergewicht beurteilt werden, wenn ein dunklerer Teint „in“ ist, aber Schwarze Menschen weiterhin strukturell diskriminiert werden – dann ist ein Umdenken der Mehrheit und ein Aufstand gerade für jene Menschen notwendig, die besonders unter dem Schönheitsdruck in den Medien und an unserem Umgang miteinander leiden.
Super Beitrag 👍
Danke für diesen tollen, berührenden, motivierenden und nachdenklich machenden Beitrag.